Flüchtiges: nicht schwer, nicht leicht

 

Blumenwolken
Wolkenblumen.
Töne spiegeln sich
ins Unendliche wider.
Blaue Erinnerungen.
Zwischen Höhe und Tiefe
Duft und Bläue
plätschern die gleichen Quellen
an denen ich als Kind träumte.

  Hans Arp

 

Das Bild mit dem Titel Wolkenkörper (2001) ist ein wichtiges Werk von Therese Grossenbacher. Die monochrome flächenhafte Komposition auf ungrundierter Leinwand (200 x140 cm) mit zwei übereinander angeordneten Wolken ist von berührender Schlichtheit und formaler Prägnanz. Eine zeichnerische Linie skizziert vage den Umriss der beiden Körper, doch die Farbe – sie basiert auf subtil schimmerndem, transparentem Perlmuttpigment – dehnt sich über die Begrenzungen aus: Nicht statisch sondern in Bewegung sind die beiden vom Rand angeschnittenen Wolkengebilde, die Licht und Schatten absorbieren.

 

Das Ephemere, der konstante Wandel in der Natur, der Zyklus von Tag und Nacht, das sind die Themen von Therese Grossenbacher. In Bildtiteln gesprochen: Tagwolken, Seefliessen, Perlglanz und Schatten. Mit sensibler Wahrnehmung registriert sie die natürlichen Phänomene, die tagtäglich zu beobachten sind: flüchtige Wolkenformationen, die Veränderungen des Lichts im Verlaufe des Tages, die bewegte Oberfläche des Sees, der sich vor ihrem Atelier erstreckt. Diese steten unspektakulären Veränderungen sind Ausgangspunkt für die malerische Umsetzung. Dabei geht es der Künstlerin nicht um optischen Naturalismus oder fotografisches Abbild.

 

Mit Bedacht geschieht die Auswahl des Materials, vorab des Bildträgers. So schätzt die Künstlerin die elastische Leinwand ebenso wie harte Platten aus Birkensperrholz mit der spezifischen Maserung, dessen «fliessende» Struktur sie als malerische Grundierung zu nutzen weiss. In einem weiteren Schritt werden die Farben gewählt und aufeinander abgestimmt. Schicht um Schicht vollzieht sich der Farbauftrag der mit Acryl gebundenen Pigmente auf kleinformatigen Bildtafeln oder auf grossen Leinwänden. Aus diesem malerischen Prozess resultiert kein Abbild sondern ein Bild, das primär auf sich selbst verweist. Analog geschieht dies bei den Zeichnungen in Graphit, die die Malerei ergänzen. Sie basieren auf den in rhythmischen Körperbewegungen ausgeführten, sich überlagernden und durchdringenden Strichen, die sich zum Bild verdichten. Dieses kann gleichermassen als abstrakte Struktur und als bewegte Wasseroberfläche – auf der sich das Sonnenlicht bricht – gelesen werden: Wasser (2010).

 

Immer wieder fügt Therese Grossenbacher ihre Bilder zu seriellen Reihen. In der aus zwanzig Tafeln (je 42 x 46 cm) bestehenden Arbeit fliessen, trägt sie das Leitmotiv in koloristischen Variationen vor und fügt diese schliesslich zu einer Abfolge von präzis gesetzten Farbkonstellationen. Diese Serie hat sie im Jahr 2009 zusammen mit dem grossformatigen Leinwandbild Seefliessen (210 x 230 cm) für die Räume der Firma Chestonag in Seengen als Kunst am Bau konzipiert und ausgeführt. In solch mehrteiligen Kompositionen veranschaulicht die Künstlerin das Prinzip der Veränderung. Die einzelnen Bilder haben lediglich fragmentarischen Charakter, sie zeigen Aspekte eines fortwährenden Prozesses. Erst in der Abfolge und der Fülle der Bilder lässt sich die Konstanz der Veränderung aufzeigen. In der Zuordnung zu Bildpaaren, den Diptychen, kommt das Prinzip der Polarität, der komplementären Ergänzung zum Ausdruck: Tagblüten und Nachtblüten (2005), Das Schwere und das Leichte (2008). Die aktuelle Arbeit Garten nah und fern führt einmal mehr das Thema der Verbindung von Gegensätzlichem vor Augen. Die rhythmische Konstellation von hell und dunkel knüpft an die frühere Serie Von nah und fern (2007). Hier schweift der Blick von den Blumenblüten im Garten zu den entfernten Lichterscheinungen am Nachthimmel – Mikrokosmos und Makrokosmos stehen sich in zauberhafter Konstellation gegenüber.

 

Im Jahr 2011 erhielt Therese Grossenbacher den Auftrag für die künstlerische Gestaltung des Andachtsraums im Kantonsspital Aarau. Für diesen Ort der Einkehr und des Gebets hat die Künstlerin ein entsprechendes Konzept erarbeitet: Die Wand hinter dem Altar hat sie mit Goldpigment, mit himmlischem Licht, bedeckt und darüber einen horizontalen Fries aus acht Wolken-Himmel-Fragmenten gefügt – gemalt auf Tapeten ähnlichem Bildträger.

 

Als folgenreich hat sich der Fund von ausgedienten leinenen Sonnenschutzrollos erwiesen, auf die Therese Grossenbacher in ihrem Atelier, in der «Bäumli», vor drei Jahren gestossen ist. Sie sind Relikte aus der Zeit der früheren Cigarrenfabrik. Auf dem alten Leinenstoff hatten sich die Spuren der Abnutzung wie eine Landschaft eingeschrieben. Die Künstlerin realisierte, dass ihr hier ein Bild zugefallen ist, dem sie ihr eigenes Bild, als eine zweite Schicht, hinzufügen wollte. Daraus entstand die Geschichte Louisa dreht Cigarren und träumt: Die Migrantin Louisa, die Tag für Tag ihrer Arbeit nachgeht, dabei oft aus dem Fenster in die hohen Bäume vor der Fabrik schaut und ihre Gedanken schweifen lässt. Louisas Blick aus dem Fenster ist eine Projektion von Therese Grossenbacher. Ihr Bild wiederum, das dicht belaubte, hochragende Äste zeigt, basiert auf einer fotografischen Projektion, die die Künstlerin in malerischer Auflösung, ausschliesslich in Schwarzweiss, auf die Leinenrollos übertrug. Dabei gab die verblichene Farbe des Bildträgers den Ausschlag, in monochromem Graphit zu arbeiten.

 

Die Serie der Louisa–Bilder löste im Schaffen von Therese Grossenbacher einen neuen zeichnerischen Impuls aus. Er führte jüngst zu einer Gruppe von Arbeiten mit Bleistift auf Papier im repräsentativen Format 48.5 x 64,0 cm. Die Künstlerin übersetzt die Themen ihrer Malerei, wie in Wolkenblumen oder Im Licht. Doch manifestiert sich die zeichnerische Linie auch in neuen Motiven, den Netzgebilden, und in repetitiven, minimalistischen Strukturen: Aus dem Fenster. Mit Louisas Blick aus dem Fenster geht Therese Grossenbacher erstmals von einer Geschichte aus und darin verortet sie sich selbst, als Künstlerin, die heute in den Räumlichkeiten der ehemaligen Cigarrenfabrik arbeitet. Einst öffnete sich die Arbeiterin Louisa mit ihren Träumereien weit entlegene Räume. Mit dem Motiv des Blicks aus dem Fenster eignete sich die Künstlerin einen Topos der Romantik an und fand zu einem Sinnbild der Sehnsucht. Der träumerische Blick kennt keine Grenzen, er führt durch die Äste des sommerlich belaubten Baumes zum Wolkenhimmel und weiter in die kaum erfassbaren Räume des Universums, wie sie Therese Grossenbacher bereits im Jahr 2007 in Lichtpunkte formulierte.

 

© Gabriele Lutz, Juli 2012

 

(Zitat aus dem Gedicht «Singendes Blau» von Hans Arp, publiziert im Gedichtband, Worte mit und ohne Anker, München 1957, 42-45.)

 

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